„How do you distinguish between being off-route and putting up a first ascent ?“ — Bruce Bindner
„Geht mal zur Kreuzspitze, das ist relativ einfach und die Aussicht ist großartig!“ So sprach unser Tischnachbar auf der Martin-Busch-Hütte (2501 m ü.A.) am Abend des 24. September 2018. Eigentlich wollten wir dort nur eine Nacht verbringen auf einer Mehrtagestour von Vent nach Obergurgl, aber nachdem alle benachbarten Hütten ihre Saison schon beendet hatten, blieb uns nur dieser Stützpunkt für Tagestouren. Also hörten wir uns unter den anderen Gästen nach Empfehlungen um, was uns letztlich zu eben diesem Entschluss führte: die Kreuzspitze sollte es sein, mit 3455 m ü.A. der höchste Gipfel des Kreuzkamms zwischen Niedertal und Rofental. Laut Wegweisern und Tourenbeschreibung sollte man den Gipfel von der Hütte aus in 2-3 Stunden erreichen können.
Ein Blick auf die Karte verriet, dass es zwei Wege zum Gipfel gab: den Normalweg durch die Flanke zum nördlichen Grat und dann auf diesem zum Gipfel, oder zunächst zur Kreuzscharte und dann über den Südgrat. Wir entschlossen uns, um möglichst wenig Weg zweimal zu gehen, zu einer Überschreitung von der Kreuzscharte her. Was am Ende daraus wurde, ist hier einmal gegenübergestellt…
So starteten wir also am Morgen des 25.09.18 bei ca. -5 °C, wolkenlosem Himmel und bester Wettervorhersage in Richtung der alten Brizzihütte – die erste Berghütte im Niedertal, schon vor langer Zeit durch eine Lawine zerstört und mittlerweile nur noch eine Ruine der Grundmauern, bestimmt aber noch gut als Notbiwakplatz zu gebrauchen. Sie befindet sich direkt am Weg auf der Hochebene nahe des Brizzisees. Aber nicht so schnell – zunächst galt es, den steilen Hang aus dem Niedertal herauf zu überwinden (T2). Endlose Serpentinen, hart gefrorener Boden und alle paar Meter der kuriose Anblick von Kammeis.
Ein letzter Blick zurück zur Hütte, bevor es über die Kuppe auf die Brizzi-Hochebene geht:
Dann ist die Vegetationsgrenze erreicht – ab hier wachsen höchstens noch ein paar Flechten auf Fels und Schutt. Wir machen einen kurzen Abstecher querfeldein zum Brizzisee, der zwar weglos, aber noch mit Steinmännern markiert ist.
Und kurz oberhalb ist in der OpenStreetMap-Karte die Abzweigung auf den Weg zur Kreuzscharte eingezeichnet. Finden tun wir sie nicht… Aber abseits sieht man in der Richtung einzelne Steinmänner. Wir starten also weg vom gut markierten und ausgetretenen Normalweg in südlicher Richtung. Nach wenigen 100 m verlieren sich die vereinzelten Spuren in einer Schutthalde. Die Vermutung lag nahe, dass der Weg verschüttet wurde, und so gingen wir durch das grobe Blockwerk um die Halde herum. Dort angekommen verriet ein Blick auf die Karte, dass der Weg unter dem Schutt bereits ein gutes Stück angestiegen war und nun ca. 50 hm über uns am Hang lag. Dies wäre wohl ein vernünftiger Zeitpunkt für eine Rückkehr zum Normalweg gewesen, jedoch erschien eine Felsrinne leicht durchsteigbar und in die richtige Richtung weisend. Mit Worten wie „Sieht doch wie eine gute Abkürzung aus“ beginnen bekanntlich die besten Horrorfilme, also machten wir uns an den Aufstieg durchs freie Gelände. Der machte tatsächlich Spaß – genau das richtige Herausforderungsniveau (T4 / Kletterstellen bis II+), immer dem gefrorenen Bach nach.
(klicken für 360°-Ansicht)
Nach dem Durchstieg durch diese Abfolge von Rinnen und Stufen, der eigentlich noch ganz amüsant war, begann dann das wahre Unheil: der Steilhang hinauf zur Scharte. „Hang“ ist allerdings leider nicht das richtige Wort, vielmehr handelt es sich um einen vom Frost der Jahrtausende gesprengten Haufen Grobblöcke ohne Kohäsion. Jeder Tritt setzt irgendetwas in Bewegung, Festhalten führt tendenziell dazu, dass man einen Block herauszieht und im Arm hält. Von hier an geschätzt T5 und äußerst unschön. Die Hoffnung, den Weg wieder zu finden, haben wir aufgegeben und bemühen uns um den am wenigsten gefährlichen Aufstieg in die Scharte. Dabei geht es nur noch sehr langsam vorwärts. Mit zunehmender Steigung und Bröseligkeit muss immer einer von uns hinter einem der wenigen Felsen vor dem Steinschlag in Deckung gehen, während der andere vorausgeht bzw. -klettert (Stellen II+ an einem Felsrücken, der zumindest ein klein wenig stabiler war als die Umgebung) und an einem halbwegs standsicheren Ort wartet.
In der Scharte angekommen lagen die Nerven dann relativ blank – ein Schnappschuss vom Tiefblick zum Kreuzferner und ins Rofental, und dann weiter den Grat entlang nach Norden. Spätestens hier hätten wir nun den auf der Karte eingezeichneten Weg eigentlich treffen müssen, aber davon war nicht die geringste Spur zu erkennen. Falls es hier einmal einen Weg gab, woran wir stark zweifeln, muss er bereits vor Jahrzehnten der Erosion zum Opfer gefallen sein. Wahrscheinlicher scheint, dass jemand mit extensiver T4-T5-Erfahrung gesagt hat „Da kann man prima raufgehen, also ist da ein Weg, ich zeichne den mal in die Karte.“ Weit gefehlt also – kein Weg war vorhanden, und auch der Grat ein loser Stapel aus Blöcken. So verließ uns vor dem Aufschwung zum südlichen Vorgipfel die Lust recht schnell, unter diesen Bedingungen den Vorgipfel zu überschreiten, um den Hauptgipfel der Kreuzspitze zu erreichen, und unsere Prioritätenliste schrumpfte zusammen auf „lebend zur Hütte zurückkommen“.
Sodann gaben wir die Hoffnung auf, über den Normalweg wieder absteigen zu können und begaben uns zähneknirschend und fluchend auf den direkten Abstieg durch das Blockgelände. Es wurden Entschlüsse gefasst wie „nächstes Jahr Wellnessurlaub“ und existentielle Fragen gestellt wie „wer hat sich dieses Bergsteigen eigentlich ausgedacht?“
Die Kamera blieb auf dem Abstieg größtenteils in der Tasche. Wir erreichten gegen 15:50 wieder den markierten Weg an der Brizzihütte und um 17:20 die Martin-Busch-Hütte, genau rechtzeitig zum Abendessen. Meine erste Amtshandlung nach der Rückkehr ins W-LAN-Land war, den „Weg“ aus der OpenStreetMap-Karte zu löschen. Noch auf der Hütte berichteten wir den Wirtsleuten von unserem Erlebnis und empfahlen ihnen, zukünftigen Gästen, die das Wort „Kreuzscharte“ in den Mund nehmen, ein paar freundliche Ratschläge entgegenzusetzen. Mag sein, dass trainierte Bergsteiger, die jedes Wochenende auf Tour gehen, über unseren Bericht lachen werden. Aber wer sich auf diese Route begibt mit der Erwartung, einen halbwegs zuverlässigen Pfad zu finden, könnte in ernste Schwierigkeiten geraten.
Zu guter Letzt haben wir noch einen Videoflug über die Tour gebastelt, in dem die Orte der abgebildeten Fotos eingetragen sind. Danke für’s Lesen – und wenn ihr Freunde habt, die zum Wandern oder Bergsteigen ins Ötztal fahren, zeigt ihnen diesen Bericht, auf dass es ihnen nicht genau so ergehe wie uns.
Video erstellt von C. Thießen mit Google Earth Pro.